Dienstag, 15. Dezember 2015

Interpretation



Vorbemerkung
Heinrich Heine verfasste das Gedicht “Erinnerungen aus Krähwinkels Schreckenstagen” im Jahre 1854, also gerade einmal knappe sechs Jahre nach der gescheiterten deutschen Revolution von 1848. Inhaltlich wie stilistisch ist es kurz gesagt eine persiflierende Imitation der in der vordigitalen Zeit geläufigen “Bekanntmachungen” durch kommunale Behörden und Körperschaften, die sich vor allem in Krisenzeiten zwecks Kontrolle und Manipulation von Bürgern, die man zu Zeiten noch als Untergebene ansah, einsetzen ließen und lassen. Sie gibt in äußerst gestraffter lyrischer Form sowohl eine Rechtfertigung für den Beginn der Revolution als auch eine Begründung für ihr Scheitern, von dem neben anderen auch Heine zutiefst überzeugt war.
Strophe 1
Wir Bürgermeister und Senat,
Wir haben folgendes Mandat
Stadtväterlichst an alle Klassen
Der treuen Bürgerschaft erlassen
Die erste Strophe kann vom heutigen Standpunkt aus als eine Art Präambel betrachtet werden. Unmissverständlich und sehr von oben herab den Plural majestatis  (“Wir”) benutzend, wenden sich Exekutive (“Bürgermeister”) und Legislative (“Senat”), denen Heine die Rolle des lyrischen Sprechers zukommen lässt, mit einem Gesetz (“Mandat”) an die ständisch strukturierte Bürgerschaft (“alle Klassen”), wenn sie denn “treu”, d.h. der Obrigkeit zugetan, ist. Konsequenterweise schließt diese Qualifizierung bereits alle oppositionellen Kräfte aus dem vorliegenden Erlass aus, weil diese im Sinne der Obrigkeit bereits als verloren gelten müssen. Schlaglichtartig beleuchtet wird hier natürlich die Qualität der damaligen vor-demokratischen Verhältnisse, wenn Regierung und Parlament gemeinsam eine Verlautbarung herausgeben. Und es kommt noch schlimmer, weil beide zusammen auch weite Teile der judikativen Gewalt übernehmen:
Strophe 2/3
Ausländer, Fremde, sind es meist
Die unter uns gesät den Geist
Der Rebellion. Dergleichen Sünder,
Gottlob! sind selten Landeskinder.
Auch Gottesleugner sind es meist;
Wer sich von seinem Gotte reißt,
Wird endlich auch abtrünnig werden
Von seinen irdischen Behörden.
In diesen beiden Strophen versucht die Obrigkeit nämlich eine Art Beweisführung und möchte die Verursacher der “Rebellion” festmachen. Es sind ihrer Logik folgend “Ausländer” und “Fremde”, weil “Landeskinder”, im heutigen Sprachgebrauch vielleicht “Träger der Leitkultur”, solche Taten (“Sünden”) angeblich schon wegen ihrer Bodenständigkeit auf keinen Fall begehen werden. In fataler Weise fühlt man sich an die gerade in der deutschen Öffentlichkeit tobende Diskussion um die Flüchtlinge und ihre Unterstützer (“Gutmenschen“) erinnert, die ebenfalls für Alles und Jedes verantwortlich gemacht werden sollen. Genauer betrachtet sind die bewussten Strophen natürlich nichts anderes als offen zur Sprache gebrachte rassistische Vorurteile gegen Menschen mit abweichender Staatsbürgerschaft bzw. Religion.
Überhaupt spielt die Religion bei der Aufrechterhaltung staatlicher Regeln eine wichtige Rolle; jedenfalls sind beide Strophen wahre Quellen der Anspielung auf die Gemeinschaft von Kirche und Staat und auf das stillschweigend vorausgesetzte Gottesgnadentum weltlicher Regierungen. Rebellion sei eine Sünde. Rebellen bekämpften nicht nur den Staat, sondern leugneten auch den christlichen Gott und das wiederum führe in letzter Konsequenz zu staatlicher Aufruhr, alles natürlich ein einziger Appell an das schlechte Gewissen der Bürger.
Strophe 4 - 7
Der Obrigkeit gehorchen, ist
Die erste Pflicht für Jud und Christ.
Es schließe jeder seine Bude
Sobald es dunkelt, Christ und Jude.
Wo ihrer drei beisammen stehn,
Da soll man auseinander gehn.
Des Nachts soll niemand auf den Gassen
Sich ohne Leuchte sehen lassen.
Es liefre seine Waffen aus
Ein jeder in dem Gildenhaus;
Auch Munition von jeder Sorte
Wird deponiert am selben Orte.
Wer auf der Straße räsoniert,
Wird unverzüglich füsiliert;
Das Räsonieren durch Gebärden
Soll gleichfalls hart bestrafet werden.
Aus den In den Strophen zwei und drei vorgeblich erhobenen Beweisen, die letztlich aber nichts Anderes sind als unbewiesene Behauptungen, leitet die Obrigkeit in den Strophen vier bis sechs repressive Vorschriften ab, die man aus heutiger Sicht nur als knallharrte, nirgendwo legitimierte Aufhebung von Grundrechten ansehen kann:
     - Die Weisungsgebundenheit ("Der Obrigkeit gehorchen ist die erste Pflicht …")
     - Die Beschränkung des Rechts auf Bewaffnung ("Es liefre seine Waffen aus…")
     - Die Beschränkung von Handel und Wandel ("Es schließe jeder seine Bude…")
     - Die Aufhebung des Rechts auf freie Versammlung (Wo ihrer drei beisammen stehn,…")
     - Die Ausgangssperre ("Des Nachts soll niemand auf den Gassen…")

Heine beschreibt hier Strategie und Taktik von staatlichen Stellen, wie sie wohl bis auf den heutigen Tag üblich sind, denkt man beispielsweise an die Notstandgesetze aus den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts oder gar an den Verlauf des "Arabischen Frühlings".
Strophe 8
Vertrauet Eurem Magistrat,
Der fromm und liebend schützt den Staat
Durch huldreich hochwohlweises Walten;
Euch ziemt es, stets das Maul zu halten.
Vollends entlarvt wird die Obrigkeit erst mit der abschließenden achten Strophe, in der sie sich zunächst süßlich-aufdringlich an das Volk heranwanzt ("Vertrauet…", " fromm und liebend…", " huldreich hochwohlweises Walten…"), stilistisch übrigens korrespondierend mit Strophe 1 ("stadtvterlichst"),  letztendlich aber mit der Forderung im allerletzten Vers ihr wahres Gesicht zeigt und ihre eigentlichen Absichten aufdeckt: "… stets das Maul zu halten." Die vertrackt-gedrechselten Formulierungen sind übrigens unmittlelbar der satirischen Komödie "Die deutschen Kleinstädter" und deren Vorliebe für gestanzte Kommunikation entliehen.

Eine staatliche Ordnungsmacht, die sich ihrem Volk gegenüber so verhält wie hier geschildert, hat sich die Rebellion wohl redlich verdient. Andererseits muss eine politische Bewegung, die sich gängeln und einschüchtern lässt, scheitern.

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