Dienstag, 29. Dezember 2015

Veranstaltungen


Definition
Schulveranstaltungen sind Veranstaltungen, die im Auftrag oder mit Billigung der Schulbehörde stattfinden, aber nicht  Unterricht im herkömmlichen Sinne sind.
Qualitätsmanagement
Im Zuge der Aufarbeitung des durch die PISA-Studie im Jahr 2000 aufgedeckten Zustands des deutschen Bildungswesens verfiel man innerhalb der Kultusbürokratie auf Drängen der deutschen Wirtschaft, die sich um die Qualifikation ihres Nachwuchses sorgte, auf die Idee, Bildungsmanagement könne am Beispiel des Wirtschaftsmanagements erlernt werden. Das führte an unserer Schule beispielsweise zunächst dazu, dass der Schulleiter einen ganzen Morgen lang in der Abteilung "Qualitätsmanagement" (QM) eines global players aus der Auspuffbranche hospitierte und sich begeistert von den Fähigkeiten des Abteilungsleiters Dr. S. und den betriebswirtschaftlichen Abläufen in dessen Abteilung zeigte. Mein Einwand, solche Abläufe ließen sich nicht 1:1 auf den Schulbetrieb übertragen, wurde schlicht abgetan.
Mehrere Veranstaltungen, meistens nachmittags, folgten, teilweise zur Unterrichtung des Kollegiums, teilweise gemeinsam mit Abgesandten des Auspuffherstellers, denen man – ein Eindruck, den ich möglicherweise exklusiv habe, - aus der Ferne bereits ihre schnöselige Abneigung gegen "die Lehrer" ansehen konnte.
Den Abschluss dieser Veranstaltungsreihe bildete ein Plenum mit dem Kollegium, der Schulleitung und dem Personal aus der Abteilung QM, inklusive ihrer Führung.
Der bereits erwähnte DR. S. dozierte eine gute Stunde  über die organisatorische Struktur seines Hauses, über Details des QM in einem industriellen Großbetrieb sowie weltweite Absatzmöglichkeiten der in seiner Firma produzierten Industriegüter. Berührungspunkte mit den Problemen der Menschenführung an einer Erweiterten Realschule ergaben sich keine, weshalb Herr Dr. S. in seinem Schlusssatz zwingend feststellte: "Die organisatorischen Strukturen eines modernen Wirtschaftsbetriebes lassen sich in keiner Weise auf den Schulbetrieb übertragen." Dieser Satz spiegelte zwar die tiefe Überzeugung des Referenten wider, führte aber die gesamte Veranstaltungsreihe zum Thema "Wirtschaft und Schule", die sich immerhin über mehrere Jahre hingezogen hatte, komplett ad absurdum. Trotzdem enthielt er nach meiner Ansicht eine schlichte Binsenweisheit.
Natürlich erbat ich von meinem Schulleiter danach eine Stellungnahme zu dieser Aussage, die sich ja vollkommen mit meiner eigenen Meinung deckte. Er bediente sich eines Totschlag-Arguments: "Herr Dr. S ist eine Schlafmütze", im Original benutzte er den saarländischen Ausdruck "Schloofkopp". Mir fiel dazu nix mehr ein.
Als zuständiger Sys-Admin unserer Schule nahm ich während dieser Zeit der versuchten Anpassung an das Wirtschaftsmanagement mehrfach einen Anlauf, jedem Angehörigen des Kollegiums eine individuelle Email-Adresse zu verschaffen, eine Maßnahme, der sich alle Angehörigen des mittleren Managements in der freien Wirtschaft unterziehen, weil sie der Verkürzung der Kommunikationswege dient. Man bedenke: Wir waren im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends angekommen; trotzdem wurde mein Ansinnen mit der Begründung abgelehnt, dann müssten sich die meisten Kollegen ja erst einen Internetzugang beschaffen. Im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre waren sie ohnehin dazu gezwungen, wenn sie informationstechnisch auf dem Laufenden bleiben wollten. Mein Vorschlag wurde trotzdem nicht akzeptiert, natürlich weil ich es nun mal war, der ihn machte, aber hauptsächlich auch, weil unter Lehrern und Lehrerinnen nichts heftiger in Zweifel gezogen wird als die Notwendigkeit des eigenen Lernens. Von den vielen Konferenzen, die noch folgen sollten, wäre ein großer Teil komplett, andere wenigstens teilweise überflüssig geworden, weil sich die Schulleitung per Rundmail - ein Begriff, der leider noch nicht eingeführt war - an das Kollegium hätte wenden können. Stattdessen verlas der Schulleiter in unzähligen Konferenzen, zu der das Kollegium nachmittags anzutreten hatte, Mails, die er zum Beispiel von der vorgesetzten Dienststelle erhalten hatte.
Umweltschutz verkehrt
Eine meiner letzten Amtshandlungen als Lehrer an der Erweiterten Realschule Neunkirchen-Stadtmitte war die Begleitung und Beaufsichtigung meiner neunten Klasse während eines Gebetsgottesdienstes in der Kirche in unmittelbarer Nähe der Schule. Der Gottesdienst war ökumenisch gestaltet, d.h. Schülerinnen und Schüler jeglicher Religionszugehörigkeit, auch Muslime übrigens, standen am Altar und trugen Fürbitten hauptsächlich zum Umweltschutz vor. Es war im Frühjahr 2010, die Sonne schien, der Innenraum der Kirche war taghell erleuchtet. Trotzdem brannten während der Zeit meiner Anwesenheit an der Decke 96 (sechsundneunzig, ich habe sie mehrfach gezählt) Glühlampen, deren Stärke ich auf je 100 Watt schätzte, völlig sinnlos vor sich hin. Ich betone nochmal: Umweltschutz war das Hauptthema dieses Ereignisses.
Sekundärzweck: Solche Veranstaltungen gelangen auf verschlungenen Pfaden immer in die lokale Presse.
Ich hoffe, ich konnte durch die Schilderung der verschiedenen schulischen Veranstaltungen hinreichend verdeutlichen, wie tief meine Abneigung gegen Schulveranstaltungen, die nicht nur sinnlos, sondern meistenteils geradezu kontraproduktiv sind, grundsätzlich sitzt
Allerdings gebe ich zu bedenken, dass bei ernsthaftem Nachdenken über die Vanitas von Schulveranstaltungen die Tätigkeit des Örtlichen Personalrates an der ERS Neunkirchen komplett überflüssig würde Mit niemandem an der Schule habe ich jemals darüber gesprochen. Welche Aggressionen diese Vorgänge trotzdem im Kollegium auslösen würden, konnte ich damals weder überblicken, noch hätte ich mich darum geschert.
Als zusätzliche Lektüre lohnt sich folgender Artikel.

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Krankengeschichte (1)



Nachdem ich im März 2010 wegen meiner Infarkterkrankungen zunächst ins Kreiskrankenhaus St. Ingbert und dann in die Universitätsklinik in Homburg eingeliefert worden war, wurde ich von da - mittlerweile waren zweieinhalb Wochen verstrichen - zur Rehabilitation in die Reha-Klinik Blieskastel überwiesen.
Gegen Ende des Aufenthaltes dort riet man mir, mich wegen meiner Bluthochdruckerkrankung, die letztlich zu den Infarkten geführt hatte, in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Die Krankheit ist - wie ich nachträglich feststellen muss - schon recht früh in meinem Leben aufgetreten. Bereits als Jugendlicher hatte ich mit häufigen Schweißausbrüchen zu kämpfen, ihnen aber leider zu wenig Bedeutung zugemessen.
Meine Kniebeschwerden wurden nach und nach immer drängender, der Bewegungsmangel größer. Leider habe ich mich weiterhin so ernährt, als stünde ich noch mitten im Sportlerleben. Der Hauptgrund für meine Erkrankung scheint aber darin zu liegen – das Geständnis fällt mir recht schwer -, dass ich viel zu spät zum Arzt ging. Der Stress, den ich dann noch beruflich hatte, gab mir den Rest.
Ich suchte also nach dem Klinikaufenthalt den Therapeuten vor Ort in Blieskastel auf, stellte aber im Verlauf eines netten Gesprächs fest, dass dieser auf psychische Probleme spezialisiert ist, die daraus resultieren, dass Infarktpatienten wieder ins Berufsleben eintreten wollen. In meinem Falle traf das nicht zu, wie man mir schon sehr früh auseinander gesetzt  hatte. Der freundliche Herr empfahl mir allerdings die der Reha-Klinik angeschlossene Praxis eines anderen Therapeuten, der auf Fälle wie meinen spezialisiert ist. Eine Zeit lang nach meiner Entlassung nach Hause erhielt ich dort auch einen Termin. Der Therapeut - wie sich herausstellte ein Universitätsprofessor - hörte sich zwischen zwei Terminen außer Haus meine Geschichte etwa 30 Minuten lang an und verwies mich dann an einen seiner Assistenten. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Leider erfuhr ich mehr oder minder beiläufig, dass der Assistent in Gruppentherapie mehrere Lehrer betreute, alle wohl mit ähnlichen Symptomen wie ich. Ein Rudel Lehrer oder Lehrerinnen mit psychischen Problemen war natürlich so ziemlich das Letzte, was ich in meinem Zustand gebrauchen konnte, weil ich Ähnliches während meiner Dienstzeit in verschiedenen Lehrerzimmern zur Genüge erlebt hatte - leider ohne Therapeut. Ich nahm also Abstand von der Teilnahme an diesen Sitzungen. Dass ich nach wie vor an die Notwendigkeit meiner Behandlung durch eine Fachkraft glaube, mag man aus der Tatsache ersehen, dass ich auch um einen Termin in der therapeutischen Praxis nachsuchte, die der meines Neurologen assoziiert ist. Leider klagte die Dame, bei der ich dann einen Termin erhielt, ebenfalls über akute Arbeitsüberlastung und verwies mich an eine Kollegin. Mittlerweile waren seit meiner Erkrankung fast zwei Jahre vergangen und ich hatte drei Therapeuten unmittelbar und zwei wenigstens virtuell kontaktiert.
Deshalb beschloss ich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und im Bewusstsein der Fehlerquellen, die in der Eigenanalyse stecken können, meine Geschichte an dieser Stelle aufzuschreiben.
 [Weiter]


Outsider



Sehr früh in meiner Entwicklung - praktisch mit dem Erwachen des Bewusstseins - bemerkte ich, dass die Wahrnehmung meiner Person in der Umgebung durch irgendetwas beeinflusst wurde - nicht zum Guten. Weder die Angehörigen beider Elternteile, noch Nachbarn konnten mir vorurteilsfrei gegenüber treten. Eine Erklärung für dieses Phänomen hatte ich natürlich nicht. Potenziert hat sich dies mit meiner Einschulung und der Einsicht, dass ich - um den modernen Pädagogenslang zu benutzen – "den Anforderungen der Schule voll gerecht" wurde.
Meine Mutter wollte verständlicherweise alles vermeiden, was ihr neben der stillschweigenden Behandlung als Aussätzige mit Bankert auch noch soziale Sanktionen  wegen eines missratenen Sprösslings eingebracht hätte. Ich kann mich nicht erinnern, von ihr auch nur einmal gelobt worden zu sein, meine schulischen Leistungen sollten zuallererst ihren guten Ruf zementieren, obwohl der nach Definition der Umgebung schon längst ruiniert war. Allerdings wurde sie nie müde, jeden, der es hören wollte oder auch nicht, von meinem Leistungsstand zu informieren, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Dies ging mir schon sehr früh auf den Senkel.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich war kein hochbegabtes Genie, habe aber die Grundschulzeit relativ problemlos gemeistert.
Viel schlimmer noch wurde diese Erfahrung mit meinem Eintritt ins Gymnasium, den mir meine Eltern – besser: meine Mutter - zwar unter großen Opfern, aber auch zwecks Selbstbestätigung ermöglichten. Ich kann mich erinnern, dass ich in einer Lateinarbeit, die die erste Arbeit überhaupt am Gymnasium war, eine Vier schrieb, was dazu führte, dass ich mich kaum nach Hause traute, wie sich herausstellte zu Recht. Tagelanger Entzug der Zuwendung, betont ruppiger Umgangston und demonstrative Zurschaustellung der eigenen Enttäuschung über das Unrecht, das man ihr angeblich angetan hatte, war die überwiegend nonverbale Reaktion meiner Mutter.
Trotzdem absolvierte ich das Gymnasium im Grunde recht glatt, obwohl ich wegen des bildungsfernen Haushalts, in dem ich lebte, keinerlei Unterstützung hatte. Nur einmal war die "Versetzung gefährdet", etwa zu der Zeit, als ich meine jetzige Frau kennen lernte – seltsam. Niemals hat mich in dieser Zeit auch nur irgendwer aus meinem familiären Umfeld nach der Schule gefragt, sehr gerne hätte ich berichtet, hatte aber keine Gelegenheit. Meine Mutter dagegen ließ gegen meinen Willen keine Gelegenheit aus, meine Zugehörigkeit zur "Owwerschul" herauszuheben. Da ich bis zum Universitätsstudium in Familie und Nachbarschaft weitgehend der Einzige mit humanistischer Bildung war, wurde ich in einem teils proletarischen, teils kleinbürgerlichen Umfeld geradezu zwangsläufig zum Außenseiter. Anfangs unmerklich, danach in freier Entscheidung. Wie mir erst viel später auffiel, liegt genau hier die Parallele zu Andri in Max Frischs "Andorra".
Ich erinnere mich an spektakuläre Fälle: Ich hatte drei mehr oder minder gute Sandkastenfreunde, die etwa gleichzeitig mit mir die höhere Schulen besuchen wollten, aber allesamt erfolglos, was die ohnehin nur lockere Freundschaft sofort scheitern ließ. Natürlich steckten die Eltern der Jungs dahinter, durchweg Handwerksmeister oder Kaufleute aus der Gegend. Es gab auch Kinder von nahen Verwandten, die die damals im Saarland noch übliche Hürde der Aufnahmeprüfung nicht nahmen und mich danach schnitten. Am schlimmsten empfand ich den Fall meines Cousins – Sohn jenes Onkels, der die Sache mit dem Haus meiner Großeltern zu verantworten hat -, der zunächst am Priesterseminar in Speyer angemeldet wurde (mindestens ein Pfarrer musste aus der Familie kommen), dann eine Klasse nach mir am Gymnasium war und letztlich auch da gehen musste. Ich diente sofort allen Beteiligten als Projektionsfläche ihrer Frustration, ein Zustand, der sich, obwohl Onkel und Tante längst tot sind, bis auf den heutigen Tag gehalten hat.
Leider ist besagtem Cousin und seiner Frau – beide inzwischen natürlich erwachsen - ein behindertes Mädchen im Baby-Alter verstorben. Nach dessen Beerdigung wollte ich aus profunder Abneigung gegen Familienfeste im Allgemeinen nicht am anschließenden Essen teilnehmen. Unausgesprochen wurde mir dies als Dünkel ausgelegt, vermischt mit der (falschen) Annahme, mein Verhalten sei Rache für die entgangene Erbschaft. Ich schwöre: Da ist nix dran.


Mittwoch, 16. Dezember 2015

Schuldienst



Ursachen für den Frust - nicht nur bei mir
In all den 36 Jahren, die ich im saarländischen Schuldienst verbracht habe, es war mit der Referendarzeit Dienst an vier verschiedenen Schulen, hat sich mir immer der Eindruck vermittelt, den Heine mit seinem Gedicht Erinnerungen aus Krähwinkels Schreckenstagen
vom Staatswesen des 19. Jahrhunderts erwecken will.
Leider bleibt am Ende lediglich die Gewissheit, nicht nur nichts erreicht zu haben, sondern dass es – schlimmer noch – in all der Zeit mit dem Schulsystem generell stetig bergab gegangen ist.
Natürlich suche ich zu allererst bei mir selbst einen Teil der Schuld, muss mich aber auf eine Art "Befehlsnotstand" – ein verbrannter Begriff, ist mir klar –berufen, der mir deswegen durchgängig zu schaffen gemacht hat, weil alle Initiativen, Anregungen, Meinungen, die ich ergriff oder äußerte, entweder durch politische Entscheidungen im saarländischen Parlament, durch Erlasse der Kultusbürokratie, durch vorgeblich demokratische Abstimmungen im jeweiligen Kollegium und vor allem durch Druck aus der Elternschaft unterlaufen wurden.
Flankierende Lektüre
Der Lehrerberuf in der Öffentlichkeit
Merkwürdig ist, dass du als Lehrer überall – ist durchaus wörtlich zu verstehen – sofort unten durch bist, wenn du deinen Beruf ins Gespräch einwirfst. "Der Lehrer hat morgens Recht und mittags frei" ist noch das harmloseste, aber am schwersten auszurottende Vorurteil, mit dem die meisten Gesprächspartner darauf reagieren. Meine Frau, seit vierzig Jahren Grundschullehrerin, wird dies wohl teilweise bestreiten, womit sie auch durchaus Recht hat, weil Lehrerinnen nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, selbst in Lehrerkollegien ein höheres Ansehen genießen als Lehrer.
Heinrich Böll schreibt im Vorwort zu seiner Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum":
"Personen und Handlung (...) sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser (...) Praktiken Ähnlichkeiten (...) ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich."
Die Schilderung meiner Jahre im saarländischen Schulwesen ist natürlich nicht frei erfunden, sondern so aufgeschrieben, wie ich sie erlebt bzw. empfunden habe. Allerdings sind auch im vorliegenden Blog Ähnlichkeiten mit realen Personen, deren Namen ich nicht nenne, "weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich."
Einen Aufsatz über die Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland lesen sie hier.
Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, und ich nahm den der weniger betreten war. Und das veränderte mein Leben.« ("Der Club der toten Dichter", Anspielung auf Robert Frosts Gedicht "The road not taken")
"Two roads diverged in a wood, and I - I took the one less traveled by, And that has made all the difference."