Donnerstag, 17. Dezember 2015

Outsider



Sehr früh in meiner Entwicklung - praktisch mit dem Erwachen des Bewusstseins - bemerkte ich, dass die Wahrnehmung meiner Person in der Umgebung durch irgendetwas beeinflusst wurde - nicht zum Guten. Weder die Angehörigen beider Elternteile, noch Nachbarn konnten mir vorurteilsfrei gegenüber treten. Eine Erklärung für dieses Phänomen hatte ich natürlich nicht. Potenziert hat sich dies mit meiner Einschulung und der Einsicht, dass ich - um den modernen Pädagogenslang zu benutzen – "den Anforderungen der Schule voll gerecht" wurde.
Meine Mutter wollte verständlicherweise alles vermeiden, was ihr neben der stillschweigenden Behandlung als Aussätzige mit Bankert auch noch soziale Sanktionen  wegen eines missratenen Sprösslings eingebracht hätte. Ich kann mich nicht erinnern, von ihr auch nur einmal gelobt worden zu sein, meine schulischen Leistungen sollten zuallererst ihren guten Ruf zementieren, obwohl der nach Definition der Umgebung schon längst ruiniert war. Allerdings wurde sie nie müde, jeden, der es hören wollte oder auch nicht, von meinem Leistungsstand zu informieren, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Dies ging mir schon sehr früh auf den Senkel.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich war kein hochbegabtes Genie, habe aber die Grundschulzeit relativ problemlos gemeistert.
Viel schlimmer noch wurde diese Erfahrung mit meinem Eintritt ins Gymnasium, den mir meine Eltern – besser: meine Mutter - zwar unter großen Opfern, aber auch zwecks Selbstbestätigung ermöglichten. Ich kann mich erinnern, dass ich in einer Lateinarbeit, die die erste Arbeit überhaupt am Gymnasium war, eine Vier schrieb, was dazu führte, dass ich mich kaum nach Hause traute, wie sich herausstellte zu Recht. Tagelanger Entzug der Zuwendung, betont ruppiger Umgangston und demonstrative Zurschaustellung der eigenen Enttäuschung über das Unrecht, das man ihr angeblich angetan hatte, war die überwiegend nonverbale Reaktion meiner Mutter.
Trotzdem absolvierte ich das Gymnasium im Grunde recht glatt, obwohl ich wegen des bildungsfernen Haushalts, in dem ich lebte, keinerlei Unterstützung hatte. Nur einmal war die "Versetzung gefährdet", etwa zu der Zeit, als ich meine jetzige Frau kennen lernte – seltsam. Niemals hat mich in dieser Zeit auch nur irgendwer aus meinem familiären Umfeld nach der Schule gefragt, sehr gerne hätte ich berichtet, hatte aber keine Gelegenheit. Meine Mutter dagegen ließ gegen meinen Willen keine Gelegenheit aus, meine Zugehörigkeit zur "Owwerschul" herauszuheben. Da ich bis zum Universitätsstudium in Familie und Nachbarschaft weitgehend der Einzige mit humanistischer Bildung war, wurde ich in einem teils proletarischen, teils kleinbürgerlichen Umfeld geradezu zwangsläufig zum Außenseiter. Anfangs unmerklich, danach in freier Entscheidung. Wie mir erst viel später auffiel, liegt genau hier die Parallele zu Andri in Max Frischs "Andorra".
Ich erinnere mich an spektakuläre Fälle: Ich hatte drei mehr oder minder gute Sandkastenfreunde, die etwa gleichzeitig mit mir die höhere Schulen besuchen wollten, aber allesamt erfolglos, was die ohnehin nur lockere Freundschaft sofort scheitern ließ. Natürlich steckten die Eltern der Jungs dahinter, durchweg Handwerksmeister oder Kaufleute aus der Gegend. Es gab auch Kinder von nahen Verwandten, die die damals im Saarland noch übliche Hürde der Aufnahmeprüfung nicht nahmen und mich danach schnitten. Am schlimmsten empfand ich den Fall meines Cousins – Sohn jenes Onkels, der die Sache mit dem Haus meiner Großeltern zu verantworten hat -, der zunächst am Priesterseminar in Speyer angemeldet wurde (mindestens ein Pfarrer musste aus der Familie kommen), dann eine Klasse nach mir am Gymnasium war und letztlich auch da gehen musste. Ich diente sofort allen Beteiligten als Projektionsfläche ihrer Frustration, ein Zustand, der sich, obwohl Onkel und Tante längst tot sind, bis auf den heutigen Tag gehalten hat.
Leider ist besagtem Cousin und seiner Frau – beide inzwischen natürlich erwachsen - ein behindertes Mädchen im Baby-Alter verstorben. Nach dessen Beerdigung wollte ich aus profunder Abneigung gegen Familienfeste im Allgemeinen nicht am anschließenden Essen teilnehmen. Unausgesprochen wurde mir dies als Dünkel ausgelegt, vermischt mit der (falschen) Annahme, mein Verhalten sei Rache für die entgangene Erbschaft. Ich schwöre: Da ist nix dran.


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